Erinnerungen an Tokio Hirano

von Frank Thiele

Tokio Hirano, 1981Nach dem Krieg nahm mein Vater, der vor dem Krieg in London bei Gunji Koizumi den Grüngurt erworben hatte, anlässlich des Koizumi-Lehrgangs in Köln wieder Verbindung mit dem europäischen Judoleben auf und kam so in Kontakt mit Opa Schutte (Gerhard Frederik Marinus Schutte) und dem niederländischen Ken Am Ju.

Hierdurch erfuhren wir von der Existenz Tokio Hiranos und besuchten in der Folge zahlreiche seiner Lehrgänge, insbesondere die von Ago Glucker in Süddeutschland (Stuttgart-Ruit und Tailfingen) ausgerichteten Wochenlehrgänge.

Hier kamen wir bald in näheren Kontakt zu Hirano, mein Vater, weil er sowohl die japanischen als auch die deutschen Namen der Judotechniken kannte und das Pidgin-English Hiranos (ein Gemisch aus Japanisch, Englisch, Französisch, Holländisch und Deutsch) verstehen und übersetzen konnte und ich, weil ich der japanischen Namen ebenfalls mächtig war und zusätzlich ausgezeichnet und angstfrei fallen konnte. Dasselbe traf auch auf Gerd Alpers zu, der viele der Lehrgänge gleichzeitig mit mir besuchte, so dass wir beide regelmäßig Hirano als Uke dienten.

Im abendlichen Zusammentreffen nach dem Training bekamen wir bald heraus, dass Hirano zumindest in Deutschland von vielen (nicht allen!) derer, die ihn zu Lehrgängen verpflichteten, finanziell schändlich ausgenutzt wurde. Mein Vater half ihm deshalb, wo notwendig, bei den Honorarverhandlungen.

Auf dieser Basis entwickelte sich zwischen ihm und meinem Vater und mir eine Freundschaft, die bis zu seinem Tode anhielt. Im Internet habe ich an irgendeiner Stelle, die ich nicht wiedergefunden habe, gelesen, dass ich niemals Hiranos Lieblingsschüler gewesen sei. Das bezog sich anscheinend auf eine mir nicht bekannte Angabe im Internet. Dazu kann ich nur sagen, dass Hirano so etwas zu mir nie geäußert hat und ich selbst nie an so etwas gedacht habe. Dazu war der Abstand des Könnens und Wissens Hiranos im Verhältnis zu mir stets zu hoch.

Zur Bedeutung Hiranos möchte ich folgendes sagen: Hirano war in meinen Augen der erste Japaner in Deutschland, der Judo nicht nur demonstrieren, sondern es uns auch wirklich beibringen wollte. Ich hatte bei manchen später in Deutschland auftretenden Größen des Kodokan den Eindruck, dass sie uns ihr technisches Wissen eher nur deshalb vermittelten, weil sie fürchteten, die Konkurrenz zu Hirano zu verlieren.

Technisch war Hirano von einer tänzerischen Brillanz verbunden mit einer Schnelligkeit und Bewegungskraft, wie sie eigentlich nur der glauben kann, der ihn persönlich gesehen hat. Selbst die alten Filme aus Schloss Wels geben die Wirklichkeit nicht in vollem Umfang wieder. Bei der Analyse seiner Bewegungen stellt man fest, dass ein gutes Teil seiner Schnelligkeit darauf beruht, dass sein Bewegungsablauf keine einzige unnötige Bewegung enthält. Diese Komponente seiner Technik war es, die er meiner Überzeugung nach seinen Schülern in erster Linie vermitteln wollte. Dies tat er mit unermüdlicher Geduld und unter Reduzierung seiner Bewegungsgeschwindigkeit in einem Maße, das die Körperbeherrschung eines Nurejew erforderte: Die beste Voraussetzung, Anfängern die Bewegungen verständlich zu machen.

Einige Bilder von Tokio Hirano aus dem Archiv von Frank Thiele

Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano
Tokio Hirano

Seine Würfe waren rasant und knallhart, aber von einer solchen Präzision, dass auch ein Laie, der kein Fallen gelernt hat, wahrscheinlich keine Verletzung davongetragen hätte. Aber er konnte auch Kraft anwenden. Z.B. mit seinen Händen. Er nannte das „Electrtic Schock“. Ich erinnere mich an ein Randori mit ihm bei einem Lehrgang in Stuttgart, zu dem er mich als Partner zum Nage no Kata eingeladen hatte. Ich hatte durch meine lange Erfahrung als sein Uke eine gewisse Vorausahnung seiner Würfe. Als er Tai-Otoshi ansetzte, gelang es mir, stehen zu bleiben. Ich stand da, blickte auf ihn, dessen Kopf links unter mir war, lächelnd an. Er lächelte zurück und warf mich mit einer einzigen Bewegung seiner rechten Hand. Hinterher beim Umkleiden stellte ich fest, dass vom Schlüsselbein bis auf den Nacken blutige Striemen verliefen.

Um Hirano mit einem ungefähren Vergleich zu charakterisieren möchte ich sagen, dass Hirano im Judo das war, was Cassius Clay im Boxen war. Man sollte meinen, dass ein Mann wie Hirano in Deutschland allgemein hochwillkommen und beliebt gewesen sei. Das war allerdings nicht der Fall: Allzu viele hochdekorierte Judoka und Judofunktionäre fühlten sich durch ihn zu blamiert, um ihn in Deutschland zu fördern. Da blieb man doch lieber Kraftfetischist. Besonders mit Heinrich Frantzen, dem Präsidenten des Deutschen Judobundes, hatte Hirano an der Kölner Sporthochschule ein Scharmützel, an dem wir jungen Judoka helle Freude hatten. Hiranos Aufenthalt in Deutschland hatte deshalb schließlich ein Ende. Aber mein Vater und ich hielten über Opa Schutte weiter losen Kontakt zu ihm.

Als ich in meinem Beruf festen Stand gefunden hatte, lud ich Hirano ein. Zunächst lud ich Hirano zu kurzen Lehrgängen an der Universität Frankfurt ein und organisierte dann für ihn ab 1981 jährlich Wochenlehrgänge in Rodgau-Nieder-Roden durch, die er i.d.R. nutzte, um vorher oder nachher weitere Lehrgänge in Deutschland (bei Dieter Steen), der Schweiz (Sylvia Soave) und Frankreich durchzuführen. Der letzte Niederrodener Lehrgang mit Hirano fand 1991 statt. Das Ende der Lehrgänge kam 1992, als er sich in Frankreich eine Sepsis zuzog, die seinem Körper so zusetzte, dass ihm schweizer Ärzte dringend rieten, sich in der Schweiz auskurieren zu lassen. Er zog es aber vor, nach Japan zurückzukehren.

Zuletzt besuchte mich Hirano im Jahr 1992 mehrere Tage privat zu Hause und versprach mir, im nächsten Jahr mit einem seiner Schüler wiederzukommen, der in den Folgejahren den Lehrgang übernehmen solle, rief aber später aus Japan an, dieser Schüler habe sich als unwürdig erwiesen.

Ich war mir damals nicht dessen bewusst, dass dies sein Abschiedsbesuch war…

Rödermark, im Juli 2016

1 Kommentare zu “Erinnerungen an Tokio Hirano

  1. Hallo Frank,
    deine Berichte, Fotos und Filme, über die Jahre im Nationalzentrum in Papendale habe ich mir mit Interesse angesehen.
    Ich erinnere mich gerne an die Jahre und an die Judolehrer wie z. B. Opa Schutte und Tokio Hirano uva. Die beiden haben mich auf dem Campingplatz, an den du dich sicherlich erinnern wirst, ausführlich in die Heilmethode der Akupressur eingewiesen. Etwas was ich niemals vergessen werde.
    Ich habe über die beiden auch viele Filme auf Super 8, die ich aber noch nicht veröffentlicht habe.
    Meine WEB-Seite ist http://www.tusg-ritterhude.de Register Judo.
    LG Bernard Lange

Kommentare sind geschlossen.